DER HIRNPROFI
Johannes Mallow ist Gedächtnissportler. 2012 wurde er Weltmeister. Vergangenes Jahr hat er in fünf Minuten 1.080 Binärzahlen memoriert. Was taugt der Mensch als Datenvirtuose?
Kreuz-Vier, Kreuz-Dame sind ein Radio. Kreuz-Fünf, Kreuz-Drei sind Chip und Chap. Da ist Batman, da ein Taucher. Und hier: ein Saunaaufguss. Wie bitte was? Der Fahrstuhl sei wieder mal kaputt, Café gehe nicht, ich solle doch einfach gleich in seine Wohnung kommen, sagt Johannes Mallow. Für mich sind Treppen kein Problem, aber für Mallow, der seit drei Jahren wegen Muskelschwunds im Rollstuhl sitzt.
Das Haus ist ein heller Neubau in der Altstadt von Magdeburg. Unten gelb und blau ein Supermarkt, und da oben, im fünften Stock, das Superhirn, Johannes Mallow, 33, Gedächtnissportler, einer der weltschnellsten im Memorieren größerer Datenmengen.
Vor sich liegen hat Mallow zwei Kartenspiele. Zweimal 52 Motive. Ein Deck will er sich jetzt einprägen. Dazu übersetzt er Kombinationen der Karten in Bilder, um sich diese schneller einprägen zu können: Radio, Batman, Taucher, von der Karte zum Bild kommen und wieder zurück. Das Deck decodieren. Alles klar.
Mallow haut auf die Stoppuhr. Er schaut die Karten durch, haut auf die Stoppuhr – 38:40 Sekunden steht da. „Eine okaye Zeit“, sagt er, „schnell, aber nicht sehr schnell.“ Jetzt nimmt Mallow das zweite Kartendeck und versucht, es in die Reihenfolge des eben durchgesehenen ersten Blattes zu bringen. Fünf Minuten Zeit hätte er dafür normalerweise, also während eines Wettkampfs, also im Ernstfall. Jetzt, wo ihm der Reporter einen halben Meter entfernt gegenübersitzt, kritzelt, atmet, guckt, braucht Mallow etwas länger, sechs Minuten, dann hat er es geschafft. Komplett richtig alles.
Normalität ist eher schlecht
„Das war jetzt ein Weg in meiner alten Heimatstadt Rathenow, den ich entlang gegangen bin“, sagt Mallow. „Da gibt es ein Verkehrsschild, daran habe ich ein großes Herz gehängt. Und dann gehe ich zum nächsten Punkt, da steht ein Baum. Dann kommt eine Gummipuppe. Dann die Teletubbies. Durch das Koppeln dieser Bilder entwerfe ich Geschichten, mit deren Hilfe ich mir die Reihenfolge von Kartendecks immer wieder neu merken kann. Skurrile Bilder funktionieren am besten, Normalität ist eher schlecht.“
Was Mallow da erklärt, nennt sich Loci-Methode, das Assoziieren von Dingen und Orten: „Um mir Einkäufe einzuprägen, könnte ich in Gedanken eine Route durch meine Wohnung laufen, Eier an die Tür schmeißen, Brot ins Regal legen, auf Bananen ausrutschen. Je origineller die Geschichte, umso besser kann ich sie behalten.“
Für kompliziertere Aufgaben hat er größere Routen programmiert. Auf einigen kann Mallow mehrere tausend Bilder memorieren und wieder abrufen, in Informationen zerlegen. Mit außerordentlichen mentalen Qualitäten habe das erst mal gar nichts zu tun, alles Training, sagt er.
Es gab da, Anfang der Nullerjahre, einen Fernsehmoment: Verona Pooth, damals noch den gut klingenden Namen Feldbusch hintendran, hatte sich in Günther Jauchs „Grips-Show“ mit Hilfe eines Gedächtnistrainers imageverzerrend eine 20-stellige Zahl gemerkt. „Wenn die das kann, kann ich das auch, dachte ich“, sagt Mallow. „Sechs Jahre später war ich Deutscher Meister.“
Experte im Vernichten von Inhalten
„Beim Gedächtnissport sind Trainingsfortschritte messbar wie beim Laufen oder Gewichte heben“, erklärt Mallow. Die Leistungen verbessern sich durch regelmäßiges Üben, das Hirn entwickelt sich konstitutiv.
Den Gedächtnissport könnte man natürlich auch sehen als Auflehnung gegen die steigende Auslagerung von Erinnerungen in digitale Archive; ein Widerstand gegen die Tatsache, dass in uns heute vor allem gefördert und gefordert wird, was mit Geräten kompatibel ist. Und interessant ist doch, dass bei aller Mehrverarbeitung an Information, der Überforderung durch Echtzeitkommunikation und Vernetzungsstress, viele visuelle Bereiche des Gehirns eher unterfordert werden.
Die wesentliche Qualität der Topleute im Gedächtnissport ist weniger die Erinnerungsbegabung als die Fähigkeit, gerade gespeicherte Informationen schnellstmöglich wieder von der Festplatte runter zu bekommen. Um neu loslegen zu können mit einer neuen Merkaufgabe, der nächsten und übernächsten Disziplin.
Die New Yorker Psychologin Betsy Sparrow legte 2011 eine Studie vor, wonach das Gehirn dazu tendiert, nicht Information an sich zu speichern, sondern den Ort der Information. Entscheidend ist demnach eine gesteigerte Aktivierung der Strukturen des Hippocampus, Erinnerungen visualisieren zu können. Der Hippocampus wird in den Neurowissenschaften gemeinhin als Erinnerungsgenerator verstanden, spielt aber auch für Emotionen eine wichtige Rolle.
„Deshalb funktionieren die skurrilen Bilder und die Routenplätze vertrauter Orte merkbar am besten“, sagt Johannes Mallow. „Wenn ich auf meiner Route an einen leeren Platz komme, kann das ein Problem werden. Dann manipuliere ich, pflanze dort virtuell einen Baum und platziere meine Gedankenbilder dort. Funktioniert besser.“
Es geht Mallow darum, seine Methoden zu optimieren. Er führt Tagebuch, Erinnerungshefte, notiert sich, was geholfen hat. Hinweise für später.
Nach dem Besuch wird sich Mallow intensiv auf ein Turnier in den USA vorbereiten. Er hat ein Ticket nach San Diego gebucht, wo in ein paar Tagen ein Gedächtniswettbewerb stattfindet, der seiner kleinen, internationalen Community etwas mehr Aufmerksamkeit verschaffen soll. Der Sieger erhält 20.000 US-Dollar. „Auch nicht schlecht“, sagt Mallow. Er wird gleich, wie jeden Tag, eine halbe Stunde üben, seine Routen gedanklich ablaufen, vielleicht noch ein paar Mal die Karten durchgehen.
Jeder hat andere Rituale
Das Dart Neuroscience Convention Center in San Diego. Die Teilnehmer des Extreme Memory Tournaments (XMT) sind im Merkmodus. Tragen Schallschutzkopfhörer. Pressen die Finger ins Gesicht, machen mit den Fingern in den Haaren rum oder sitzen einfach ganz still da. Jeder konzentriert sich anders. Irritationen minimieren, da hat jeder andere Rituale.
Augenbinde
Augen schließen
Energydrink
Zigarettchen
Barfuß oder
Turnschuhe
Kopfhörer oder
Kopfbedeckung
Schokoladenkekse
Kaugummi
„Rituale sind immer gut“, sagt Mallow. Nur plötzlich aufs Klo müssen, ist gar nicht gut. Das war ihm 2013 bei den Gedächtnissport-Weltmeisterschaften in London passiert. Ausgerechnet ihm, Titelverteidiger, Favorit. Mallow wurde am Ende Zweiter, hinter dem Schweden Jonas von Essen.
„Normalerweise sind solche Wettbewerbe ziemlich langweilig fürs Publikum“, sagt Extreme-Memory-Veranstalter Nelson Dellis, der amerikanische Gedächtnischampion. Dellis brachte den Pharmakonzern Dart NeuroScience und die Washington University in St. Louis zusammen, die Veranstaltung zu sponsern. Dadurch ließ sich ein aufwendiges Programm für Live-Übertragungen auf Leinwänden und im Internet programmieren.
„Wir wollten es mal ein bisschen zuschauerfreundlicher machen. Finde, das ist uns ganz gut gelungen. Die nächste Gedächtnis-WM ist in China. Mal sehen, ob die das genauso gut hinbekommen.“ Das Klassenfeind-Bashing gibt es gratis dazu. Aber tatsächlich: Der Reporter kann Johannes Mallow von Berlin aus ganz komfortabel zusehen, die Live-Übertragung funktioniert tadellos. Und Spannung kommt auch auf. Als Johannes Mallow im Halbfinale gegen Weltmeister Jonas von Essen einen 0:3-Rückstand aufholt und ins Finale einzieht, hört man zum ersten Mal einen die Übertragung verzerrenden Applaus aufbranden.
Neben dem Kartenspiel, das es sich in fünf Minuten einzuprägen gilt, gibt es beim Gedächtniswettkampf in San Diego drei weitere Disziplinen: Nummern – eine Zahlenreihe auswendig lernen. Wörter – wobei in drei Minuten 50 Begriffe sich gemerkt und an der richtigen Stelle in ein Diagramm eingetragen werden müssen. Und schließlich müssen Namen Gesichtern zugeordnet werden.
„Namen liegen mir nicht so“, sagt Mallow. Dafür liegen ihm Zahlen. 1.080 Binärzahlen hat er sich vergangenes Jahr in fünf Minuten eingeprägt. Weltrekord. Mallow nutzt dabei das so genannte Mastersystem. Hierbei werden die Ziffern 0 bis 9 bestimmten Konsonanten zugeordnet. Die 2 steht beispielsweise für ‚n’, weil das ‚n’ zwei Beine hat. Im nächsten Schritt gilt es wieder zu kombinieren, sich ein eigenes Buchstaben-Ziffern-System auszudenken. „Die Zahl 22 kann man sich mit dem Wort Nonne merken“, sagt Mallow. „Diese Wörter werden dann wieder assoziativ verwendet, um mit ihnen eine Geschichte zu erzählen. Wenn man die Bilder verinnerlicht hat, ist es wirklich einfach, sich gleich 50 Kontonummern auf einmal zu merken.“
Auch diesmal wird Mallow zweiter. Simon Reinhard, ein junger Rechtsanwalt aus München, alter Kontrahent und ein guter Freund Mallows, ist an diesem Tag besser und gewinnt den Scheck über 20.000 US-Dollar. Immerhin bleibt Mallow Nummer eins der Weltrangliste.
Paar Ziffern mehr, paar Sekunden weniger
Ein paar Wochen vor San Diego sitzt Johannes Mallow vor etwa 50 Zuhörern in einem Vorlesungssaal der Fachhochschule Magdeburg in Stendal und erzählt von seinen Gedächtnistechniken.
„Kann eigentlich jeder“, sagt Mallow wieder einmal, aber hier wirkt er wie ein Zauberer.
Das Publikum in Stendal ist während der Vorlesung überwältigt, baff. „Immer wieder eine Freude zu sehen, wie man die Leute mit diesen Techniken überraschen kann“, sagt Mallow. Als die Zuhörer später den Saal verlassen, ist der Satz der Stunde: „Das will ich jetzt auch mal versuchen.“
„Die Leistungssteigerung, die am Anfang natürlich ungleich größer ist, motiviert enorm. Später sind die Fortschritte marginal, da kommt es dann, wie beim Hundertmeterläufer, auf die Tagesform an“, sagt Mallow. „Wenn man sich unter Druck mit den Besten in den Wettbewerben misst natürlich umso mehr.“
Es gibt ihm einen Kick, wie er sagt, die eigenen Grenzen zu verschieben. Ein paar Ziffern mehr, ein paar Sekunden weniger. Mallows nächtes Ziel ist es, den Gedächtnissport bekannter zu machen. Dafür geht er, ganz Verona Pooth, gezielt in Fernsehshows. Planetopia. Lanz. Unter uns. Ist auch da mittlerweile Profi.
Gedächtnistraining führe nicht dazu, dass man rascher denke oder nichts mehr vergesse. „Aber das Erfinden verrückter Geschichten im Kopf macht gedanklich beweglicher“, sagt Mallow. „Man könnte auch sagen, es macht einen lockerer.“
© Jasper Fabian Wenzel · Krautreporter, 18. Dezember 2015
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