IMMER NOCH STURM

By admin 23rd Oktober 2021

Mike Drechsel sagt wenig, aber nicht nichts. Er hätte ein zweiter Michael Ballack werden können, doch er blieb im Harz und spielt heute in der Kreisliga. Vom vagen Glück, einen Schritt zurück zu tun – ein Nachwendeporträt.

Mach mal Sonne, aber nicht zu doll“, hatten sie gesagt. Und die Sonne knallt auf den Asphalt, und die Fußballschuhe der Männer klackern wie einhundert Stilettos. Die Kreisligamannschaft TSV Eintracht Wulften kommt von einem Spaziergang zurück auf das Vereinsgelände.

Dieses sonnenbeschienene Wulften also. Wulften am Harz. Hier räumt Mike Drechsel mit der Sohle einen Kieselstein zur Seite, im Vereinsheim gibt es Käseplatte, Wurstplatte und Brötchen, Drechsels Töchter laufen über den Rasen, die Zeit, die Zeit.

„Die Mannschaft hat am Vormittag bisschen trainiert“, sagt Trainer Stephan Strüber, „paar Pässe, Ballarbeit, kleines Spielchen, das ist die Lage.“ Es sind zwei Stunden bis zum letzten Spieltag, heute geht’s drum: um die Meisterschaft, den Aufstieg und um die Meisterfeier natürlich.

Wulften ist eine Fahrstuhlmannschaft. Dreimal ging es runter in den letzten neun Jahren, jetzt will der Klub das vierte Mal rauf. „Ruff“, sagt Stephan Strüber.

Mike Drechsel will einen Sommertag, der später als Foto im Vereinsheim hängt. Er spricht mit gesenktem Kopf, trägt die einfachste Brille der Welt, lächelt, hat einen Hang zum Unprätentiösen, ist gleichzeitig offen und verschlossen.

„Der talentierteste Stürmer, den der Harz je hatte“, sagt einer, der im gelben Gras seinen Klappstuhl aufgebaut hat. Der Zuschauer mit dem Klappstuhl macht eine Kopfbewegung rüber zu den Umkleidekabinen, zu den Männern mit den roten Trikots, die da warten, einklatschen, rummännern. Erinnerungsfetzen am Spielfeldrand: Mike Drechsel, der talentierteste Stürmer, eine Lichtfigur im Geschichtenraum Harz, der daliegt im Schatten des morschen Ost-Fußballs, der auch deshalb ein großer Anachronismus ist. Der Harz war immer ohne Profitum, ein Amateurfußballgebirge.

Mike Drechsel, geboren 1978, verbringt seine Kindheit in der Harzstadt Blankenburg, DDR, zwölf Kilometer bis zur Westgrenze. Seine Eltern arbeiten bei der NVA, untere Ebene, sie kocht in der Kantine, er hat einen einfachen Bürojob.

Mit fünf fängt Drechsel mit dem Fußball an. Erst ist er Torwart, weil er aber immer wieder nach vorne rennt, macht ihn der Trainer zum Stürmer. „Man muss wissen, wo man hinwill“, sagt Drechsel.

Nach der Wende, Anfang der Neunziger, spielt er in der Landesauswahl, trainiert fünfmal die Woche, fährt zu DFB-Lehrgängen nach Duisburg und Bad Honnef, er trifft Berti Vogts und trägt die Mannschaftskleidung der Nationalmannschaft.

Drechsel bekommt vom Hamburger SV einen Fördervertrag angeboten.

Für die U16-Auswahl macht er gegen Australien sein erstes Länderspiel.

Im Magazin „Kicker“ steht Drechsel zusammen mit den späteren Bundesliga-Torhütern Timo Hildebrand und Raphael Schäfer im vorläufigen Kader für die Junioren-EM in Belgien. Dann, er ist 15, passiert ihm die erste schwere Knieverletzung.

Es folgen Läsionen in schlecht dosierter Häufigkeit. Die erste Chance ist verrauscht. Aus dem Vertrag mit dem HSV wird nichts, es geht im Osten weiter.

Visitenkarten

Als Drechsel mit den A-Junioren seines Heimatvereins Blankenburger FV in die Regionalliga aufsteigt, kann der Verein den Etat nicht aufbringen. Er wechselt zum großen Nachbarn, dem es gar nicht gut geht. In der viertklassigen Oberliga ist der DDR-Traditionsverein 1. FC Magdeburg nur mittlerer Durchschnitt, etwa 600 Zuschauer gehen noch hin in eine fast tote Arena. Ein Fan-Albtraum. Die Leute, einigermaßen verzweifelt, schauen jetzt Boxen oder Handball.

Für Drechsel aber scheint es der richtige Augenblick, er spielt für die A-Jugend und beide Herrenmannschaften und steigt mit allen Teams auf.

„Drei Meisterfeiern“, sagt Drechsel.

Er unterschreibt einen Dreijahresvertrag, bis ins Jahr 2000. Das sieht gut aus und klingt gut und weit weg.

Ein Fußballheld von einst, der DDR-Rekordnationalspieler Joachim Streich, betreut das Team. Drechsel liegt neben dem Handballpunk Stefan Kretzschmar auf der Massagebank, hart und fröhlich, mit einer Ahnung wunderbarer Möglichkeiten. Noch immer geht der Weg junger Talente über die größeren Ostklubs in den Westen. 1997 ist Drechsels zweite Chance.

Es ist das Spieljahr, in dem der 1. FC Kaiserslautern als Aufsteiger die Deutsche Meisterschaft gewinnt. Michael Ballack, ein junges Talent aus Karl-Marx-Stadt, macht seine ersten Bundesligaspiele. Es ist das Jahr von Otto Rehhagel, von Schnurrbartstürmer Olaf Marschall und Giovanni Trapattonis Pressekonferenz beim FC Bayern München.

Der FC Bayern hätte Drechsels Geschichte werden können. Mit seinem Jugendverein fährt er kurz nach der Wende gen München auf seine erste Reise in den Westen. In einem Testspiel gegen den Bayern-Nachwuchs schießt Drechsel vier Tore. Eine schöne Visitenkarte für später.

Später, Sommer 1997, der FC Bayern München kommt für ein Testspiel nach Magdeburg. 25.000 Zuschauer sind ins Ernst-Grube-Stadion gekommen, für den gestürzten Ostverein soll es ein Spiel werden, das aus der Düsternis weißt.

Drechsel steht in der Startelf. Er hat seine erste Autogrammkarte bekommen. Im Fanshop hängt sein Trikot mit der Nummer 20. Die Fans hoffen, dass der 18-Jährige den Klub in die 2. Bundesliga schießt. Sie feiern ihn, weil er Kontakt sucht zu den Anhängern, weil er sich locker und gerne mit ihnen umgibt. Sie nennen ihn „Heiland“ und „Ronaldo“, und auf der Autogrammkarte sieht er tatsächlich ein bisschen aus wie der brasilianische Weltstar.

Als die Magdeburger Spieler sich aufwärmen, steht Drechsel noch immer bei den Fans, stolz und mit Filzstift.

Der Magdeburger Trainer und Manager Hans-Dieter Schmidt, ein Mann aus dem Westen, sieht so was nicht gern. Ronaldo darf nicht spielen, stattdessen macht der echte Brasilianer Giovane Elber sein erstes Tor für die Bayern, und München gewinnt 2:1.

Die ersten Zeitlupen

Später, in den Nullerjahren, war Hans-Dieter Schmidt Trainer im Iran, in Ghana, Ägypten und Saudi-Arabien. Magdeburg blieb sein einziger Job in Ostdeutschland. Jetzt liegt er, nach einem Unfall auf einer Afrikareise, im Krankenhaus. Er fühlt sich etwas schwach, an Drechsel erinnert er sich gut.

„Er war ein kleiner Spieler“, sagt Schmidt, „aber er hat mit Tempo und Artistik und einer sensationellen Torgefahr auf sich aufmerksam gemacht. Wir hatten ja auch einen Marcel Maltritz, der später für den HSV und für Wolfsburg in der Bundesliga spielte, aber für mich war Mike Drechsel unter unseren jüngeren Spielern der talentierteste. Einer der besten im Osten damals.“

Am 6. Spieltag, in Zehlendorf, wird Drechsel nach der Halbzeitpause eingewechselt. Es steht 0:2. Dann gibt es Elfmeter für Magdeburg, Kapitän Frank Lieberam verwandelt. Bei seiner ersten Ballberührung köpft Drechsel den Ausgleich, dann das 3:2 – wieder Drechsel. In der 70. Spielminute schafft Zehlendorf das 3:3, und eigentlich ist das Spiel schon zu Ende, als Drechsel in der Nachspielzeit wieder trifft mit dem Kopf. Drei Tore in seinem ersten Saisonspiel, Siegtore, die am Abend in der MDR-Sportsendung wiederholt werden. Es sind Drechsels erste Zeitlupen.

Drechsel ist 16, als er nach Magdeburg zieht, weg von den Eltern. Der Verein zahlt ihm eine Wohnung, besorgt ihm einen Ausbildungsplatz. Um 6 Uhr morgens ist Arbeitsbeginn, Training um 12 Uhr und hinterher wird weitergearbeitet. Am Abend dann das zweite Training, die Mannschaftsbesprechung, danach Mannschaftsessen in einem Hotel.

Drechsel wohnt auf der anderen Seite der Stadt, am nächsten Morgen geht es um 6 Uhr weiter, er fährt nicht oft zum Mannschaftsessen. Er fühlt sich allein gelassen in diesem Backstagebereich des Ostfußballs. Es ist eine brüchige, eine kalte Atmosphäre, die Drechsel beschreibt, wenn er vom Magdeburg der Neunziger spricht.

Hinter dem Stadion, am Trainingsgelände, liegt ein Kasino. Manchmal geht Drechsel mit einigen Teamkollegen hin, und manchmal gehen sie zum Boxen. Man ist für Henry Maske, den Gentleman, oder man ist für die härtere Straßenboxerfigur Graciano „Rocky“ Rocchigiani, den Antihelden, der sich, so die Geschichte, hart nach oben arbeiten musste, dem man nichts geschenkt hat, der nicht vergessen hat, wo er herkommt. Drechsel ist für „Rocky“.

Nach seinen Toren gegen Zehlendorf läuft bei Drechsel nicht mehr viel. Wieder das Knie. Und er hat auch Gegner unter den Mitspielern.

„Bestimmte Leute haben versucht, mich einzuschüchtern. Ich habe immer gesagt: Was soll das, wir sind eine Mannschaft, aber es hörte nicht auf. Einmal habe ich mich im Training revanchiert. Es gab eine Rangelei. Und irgendwie habe ich ihn dann wohl im Gesicht getroffen“, sagt Drechsel und lächelt die Geschichte weg.

Davon, dass er Drechsel nicht genügend gefördert hätte, will Hans-Dieter Schmidt heute nichts wissen.

„Das ist Quatsch. Er war sehr eigenwillig, ungestüm bisweilen. Er hätte es, nach seiner rebellischen Phase, bei einem anderen Verein probieren sollen. Der Osten ist Fußballbrachland, in Magdeburg war der Existenzdruck unter den Spielern ziemlich hoch. Dort war damals nicht viel zu machen. Ein Verein braucht Geld, um gestalten und Perspektiven bieten zu können. Im Osten gibt es keinen, der Geld hat.“

Heiland Drechsel, „der Knipser“, wie sie ihn später etwas schlichter nennen werden, ist zum ersten Mal in der Defensive. Aber er hat noch immer das Selbstbewusstsein der Schulterklopfer, das Wissen um seine Unentbehrlichkeit in der Vergangenheit. Hat er nicht jahrelang Leistung gezeigt? War das in der Jugendzeit Geleistete alles für den Müll, Bewerbung, Praktikum, Lehrgeld? Drechsel ist genervt. „Ich hatte die Schnauze voll“, sagt er.

Nach seiner Suspendierung hat Drechsel noch zweieinhalb Jahre Vertrag. Ein Bekannter hilft ihm bei der Annullierung, er leistet seinen Wehrdienst. Erst hinterher erfährt er: Es hatten Angebote für ihn vorgelegen. Von Hertha BSC Berlin verlangte Hans-Dieter Schmidt damals 350.000 Mark für einen Transfer. Im Amateurbereich eine Menge Schotter, Berlin winkte ab.

„Schmidt wollte Kasse machen, sonst nichts“, sagt Drechsel. „Das Geschäftsmodell war damals, Jugendspieler hochzuziehen und schnell für viel Geld anderswohin zu transferieren. Wir jungen Spieler mussten permanent zu irgendwelchen Probetrainings. Für die Entwicklung einzelner Leute hat sich der Verein nicht interessiert. Es wurde nicht viel gesprochen.“ 

Drechsel fühlt sich ein bisschen betrogen, er gibt sich Mühe zu überzeugen, dass ihn dies nicht mehr berührt. Hans-Dieter Schmidt sagt, er habe versucht, den Verein am Leben zu halten.

„Das war meine Aufgabe. Ohne Spielerverkäufe hätte sich noch so mancher Ostklub verabschieden müssen. Verkaufen war der Überlebensdeal.“

Ein Systemfehler, sagt Schmidt. Eine Scheiße, sagt Drechsel.

Fußballeinheit dort und hier

In den ersten fünf Jahren nach der Wende wechselten 150 Spieler, die zuvor DDR-Oberliga gespielt hatten, zu Westklubs in die 1. oder 2. Bundesliga. Hinzu kamen abgeworbene Jugendspieler von den ehemaligen Spitzenklubs, aus Berlin, Dresden, Leipzig, Rostock und Magdeburg, von denen viele noch Profis werden sollten. Darunter Michael Ballack, der in Chemnitz „kleiner Kaiser“ genannt wurde, der mit einer akribischen Karriereplanung zum Weltstar wurde, der Glück hatte, dass Chemnitz Mitte der Neunziger einen Ballack-Augenblick lang Profifußball spielte.

Das Wendejahr war die große Zeit des Fußballmanagers Reiner Calmund, der als Erster mit superscharfem Geschäftssinn seine Einkaufstour durch den Osten machte. Calmund warb Talente ab, schaffte große Transfers: Als erster Spieler der DDR-Oberliga wechselte Andreas Thom im Januar 1990 für 2,5 Millionen D-Mark vom BFC Dynamo zu Bayer Leverkusen in die Bundesliga. Kurz darauf holte Calmund auch Ulf Kirsten, den Mittelstürmer und Nationalspieler, von Dynamo Dresden nach Leverkusen. „Kirsten war ein ähnlicher Spielertyp wie ich“, sagt Drechsel, dann lässt ihn der große Vergleich kurz verstummen.

Nur zwei Ostklubs aus der DDR-Oberliga durften sich für die Bundesliga qualifizieren, die allerdings für eine Spielzeit von 18 auf 20 Teams aufgestockt wurde. Keine Verluste westseits also. Sechs weitere DDR-Oberligisten durften in die 2. Bundesliga, die man ebenfalls für eine Saison vergrößerte. Die restlichen Vereine sahen sich fortan anderswo. Unten.

Durch den Ausverkauf ihrer wichtigsten Spieler hatten die Ostklubs Geld eingenommen, Stigma und Qualitätsverlust, Reputation und Korruption aber machten sie chancenlos, alle Versuche, auf Dauer mit den Westvereinen mitzuhalten, scheiterten.

20 Jahre nach der Fußballeinheit bleibt ein Gefühl der Ungerechtigkeit. Der DFB hat bei der Eingliederung des DFV für sich das Beste herausgeholt. Die Fußballlandschaft im Osten hat sich bis heute nicht davon erholt.

Die seltenen Aufstiege der ehemaligen DDR-Vereine in den unteren Spielklassen werden gefeiert wie große Titel. Manchmal träumten Fans und Vereine von einem Investor aus Spanien, vom Profifußball und vielen Millionen, und vieles endete immer und immer wieder noch einmal in Träumerei – so viele Pleiten und Neugründungen seit der Wende.

Es sind dies die großen Jetzt-Bilder der Fußballeinheit. Der Harz steht dagegen als autarkes Fußballland genügsam in seinen eigenen Geschichten, die kaum über die Region hinaus gesendet werden. Hier ist alles etwas kleiner als groß.

In Drechsels Jugendzeit gab es einen großen Fußball-Wettbewerb zwischen den Orten. Heute müssen die Rivalen zusammenhalten – die Demografie. Die Orte sind ausgedünnt, die Klubs bilden Spielgemeinschaften. Der Turn- und Sportverein Wulften kommt bislang allein zurecht.

Torkönig

Heinz Oelze und Uwe Dittmann sind Männer, die sich damit auskennen, dass es kommt, wie es kommt. Beide waren Jugendtrainer Drechsels. Oelze, früher selbst Stürmer beim 1. FC Magdeburg in der DDR-Oberliga, wurde 1971 zum Militärdienst eingezogen und verpasste so die vielen Titel, die Magdeburg in den 70ern gewann, darunter den Europapokal der Pokalsieger 1974.

Einen „begnadeten Spieler, hochtalentiert“, nennen Oelze und Dittmann den jungen Drechsel. Als er acht ist, will ihn Magdeburg erstmals verpflichten. Die Eltern wollen noch nicht. Drechsel bleibt in Blankenburg und sorgt für Vereinsrekorde. Als die C-Jugend 1993 durch ein 2:0 gegen den Halleschen FC Landesmeister wird, hat er 112 Saisontore geschossen. Im Jahr davor waren es 162, davon 40 in einem einzigen Spiel. Es gibt wohl niemanden in der Region mit mehr Pflichtspieltoren seit der Wende. Mike Drechsel, Torschützenkönig im wiedervereinigten Fußballland Harz. So in etwa.

Für Heinz Oelze und Uwe Dittmann waren die Jahre mit Drechsel besondere Jahre. Schnell schwelgen beide. Dittmann erinnert sich an ein Spiel gegen Lokomotive Stendal: „Mike hatte das 1:0 gemacht, dann musste ich ihn rausnehmen, er hatte sich die Schulter ausgekugelt. Zur Halbzeit lagen wir 1:4 zurück, und er wollte es unbedingt noch mal versuchen. Wir haben ihm einen Verband gemacht. Und dann habe ich den Mike also wieder gebracht. Der Junge hat noch vier Tore geschossen und wir haben 5:4 gewonnen.“

„Fußballspiele und lokales Fantum waren immer ungeheuer wichtig für die Leute im Harz“, sagt Oelze. Anders als bei allem anderen, schienen hier Anzeichen eines Aufschwungs wirklich durchschimmern zu können. Und Drechsel war ihr Konjunkturpaket. „Dem Mike haben sie schon in der Jugendzeit gerne zugeschaut”, sagt Dittmann, „zu den wichtigen Spielen kamen drei-, vierhundert Zuschauer.“

„In Magdeburg, glaube ich, haben sie ihm einfach zu wenig Pause gegeben. Haben ihn gleich in drei Mannschaften spielen lassen“, sagt Uwe Dittmann. „Verprellt“, sagt Oelze. Die Hochzeit von Sportschulen und Leistungszentren der Jugendabteilungen im Osten sind da längst vorbei. Vorbei die Jahre, in denen Talente intensiv gefördert und nicht mehr losgelassen wurden. Mit 18 hatte der kleine Heiland aus dem Hinterland seinen dritten Meniskusschaden.

„Ich habe in den letzten DDR-Jahren in Blankenburg noch erlebt, was Jugendförderung bedeutete. Ich hatte Ansprechpartner. Mit zehn habe ich an fünf Tagen in der Woche trainiert. Nach 1990 musste ich dafür nach Duisburg fahren“, sagt Drechsel, „oder wenigstens nach Magdeburg. Die alten Leistungszentren sind einfach verrottet. Kein Geld mehr. Ging alles den Bach runter.“

Die ältere Fan-Generation im Osten fühlt sich nach der Wende betrogen. Betrogen vom Geld aus dem Westen, das ihre Helden lockte, betrogen von den Vereinen, die nicht mehr die ihren waren.

Die Selbstzufriedenheit des DFB mit Art und Weise der Fußballeinheit gipfelte nach dem WM-Sieg 1990 in Franz Beckenbauers Jubel-Nebensatz: „Jetzt sind wir auf Jahre unschlagbar.“

Erst nachdem sich die deutsche Nationalmannschaft – gealtert, dann notdürftig verjüngt und vor allem im Sturm in Not – bei der WM 1998 in Frankreich mit einem 0:3 gegen Kroatien aus dem Turnier verabschiedet, beschließt der DFB, die Jugendarbeit zu reformieren. Das Modell der DDR-Sportschulen wurde zum heimlichen Vorbild.

Die neue Attraktivität der Fußball-Bundesliga, die Rede von der goldenen Generation in der Fußball-Nationalmannschaft, „das hat alles auch zu tun mit dem Erinnern an die Strukturen der Jugendförderung in der DDR“, sagt Drechsel.

Heute gibt es wieder junge Spieler aus dem Osten, die es bis nach ganz oben schaffen. Der Nationalspieler Marcel Schmelzer von Borussia Dortmund etwa, der in der Jugend wie Drechsel für den 1. FC Magdeburg spielte.

Den Harz aufwecken

Anpfiff in Wulften. Es ist ein Sonntag im Juni. Den Ort durchzieht Leere. Die Schilder im Ortsinneren: „Deppe Kaffeethek“, „Agrar Markt Deppe“, „Sport Center Ringmann“ und endlich „Waßmannstraße, Sportplatz“. Die Waßmannstraße ist die lebendige Spur.

„Kommt sehr darauf an, wie wir reinkommen“, hatte Trainer Stephan Strüber am Vormittag gesagt, und Wulften kommt gar nicht gut rein, zu unsicher das Passspiel am Anfang, ein Wimmelbild. Der Gegner hat Chancen.

Vorstellbar, dass ein junger Drechsel den Ort aufwecken könnte, wie damals, 1999, bei seiner kurzen Rückkehr nach Blankenburg.

Ein Bekannter aus Drechsels Jugendverein bittet ihn nach dessen Rauswurf beim 1. FC Magdeburg zu helfen. Blankenburg ist Tabellenletzter in der Verbandsliga, akute Abstiegsgefahr.

„Die Leute gingen hier plötzlich wieder zum Fußball“, erinnert sich Uwe Dittmann. Drechsel machte bum, dann machte er bum, bum, dann hieß es: gut gemacht, Mike, dann gab es ein Bier. 1000 Leute schauten zu, wie Drechsel die Gegner auseinandernahm, und auch auswärts kamen die Fans, mit dem Schönes-Wochenende-Ticket durch Sachsen-Anhalt.

In der Rückrunde schoss Drechsel den Verein bis auf den zweiten Platz. Für den Aufstieg in die Oberliga reichte es nicht ganz. Aber fast. Bestätigung aus der Nähe tut ihm gut, sie hilft, man merkt Drechsel seinen verborgenen Stolz hinter den bescheidenen Worten an. „Schön, dass endlich jemand meine Geschichte erzählen möchte“, sagt er.

Mit Anfang 20 bekommt Drechsel noch einmal Angebote aus Berlin, Leipzig und Braunschweig, aber das bedrohliche Leben außerhalb des Fußballplatzes drängt sich auf. Drechsels Mutter stirbt an Krebs. Der Sohn möchte in der Nähe des Vaters bleiben. Er hat keine Lust auf Berufsnomadentum, auf mageres Geld und viele Vereinswechsel, bis der Körper nicht mehr kann.

Möglicherweise ist es auch ein Akt des Stolzes. Dass es nicht mehr geht wie von selbst. Misstrauen gegenüber zu vielen Zufälligkeiten, Verletzungen. Vielleicht beginnt hier die Geschichte des Vernunftfußballers, der dem ewigen Versprechen des Spiels und seiner Wunderkraft nicht mehr ganz vertrauen mag.

Die Küsse, die Mädchen

„Mir war wichtig, erst einmal meine Kaufmannslehre zu machen“, sagt Drechsel. Die plötzliche Lebensidee mit Anfang 20: Sicherheit und Familie und einen Ort, der einen kennt. Der Harz ist ein schönes Versteck.

Zehn Jahre spielt Drechsel zehn Kilometer nördlich von Wulften in Petershütte fünfte Liga. Der neue Klub gibt ihm einen Ausbildungsplatz, dann einen Job in einem Sportgeschäft. „So läuft es bei uns“, sagt Drechsel, „vom Fußball zur Arbeit zum Fußball.“

Wenn der große Traum ausgeträumt ist, bleiben Geschichten, die möglichst nah dran sind an den einst geträumten Bildern. Charmante Episoden und Einmaligkeiten, Drechsel kann gutlaunig erzählen davon: „Einmal war ich die komplette Hinrunde verletzt. In der Rückrunde habe ich in 15 Spielen 37 Tore geschossen.“

Seine Frau hat Drechsel auf einem Vereinsfest kennengelernt. „Muss man auch erst mal schaffen“, sagt er, „gibt ja kaum welche bei uns.“ Drechsel kümmert sich um seinen Vater, der einen Schlaganfall hatte, der noch immer in Blankenburg wohnt, der sagt: „Alte Bäume verpflanzt man nicht.“

Funktionieren denn Fußballstatistiken bei den Harzer Mädchen? „Kompletter Quatsch, nee, natürlich nicht“, sagt Drechsel. „Denen muss man schon was anderes erzählen, mehr so uff nett.“ Ob Drechsel gerne küsst? Er brummt, und er lacht. Er sagt „hm!“

„Harz ist Heimat“, sagt Drechsel. „Hier habe ich etwas für mich gefunden.“ Es sind Sätze, die einleuchten sollen. Er gehört dazu, das möchte er, hier ist er wer. Drechsels wache Augen leuchten. Es scheint ihm sehr plausibel, dass alles wurde, wie es ist.

Im vergangenen Jahr kommt es dann zum Wechsel nach Wulften. TSV Eintracht Wulften von 1904, gegründet von Turnbruder Hermann Müller. Der Verein verschafft Drechsel einen festen Job als Lagerist. Das Sportgeschäft in Petershütte gibt es nicht mehr.

Ehrensache

Noch ist es ruhig um das Wulftener Spielfeld, auf den Bänken, an der Würstchenbude, vor dem Vereinsheim. Das ganze Dorf ist gekommen, vielleicht nur das halbe, die Augen scannen das Spielfeld, es darf jetzt bitte gerne etwas losbrechen.

„Ehrensache, dass es heute klappt“, hatte Drechsel gesagt. „Hoch, ruff, uffsteigen!“

Und was hier alles in den Himmel raufragt: Hobbyfunkerantennen, Windräder, ein Mast mit Deutschlandfahne; die Zuschauertribüne, Jubelarme und weiter und höher der Ball, der nach 20 Minuten endlich ins Tor fliegt, dass die Jubelarme einander umarmen dürfen, weil Wulften wird Meister, ganz sicher, das geben sie jetzt nicht mehr her.

Stephan Strüber gibt den kurzen Befehl: jetzt nicht nachlassen! Die Worte des Trainers sind knapp und klar, kein schrilles, misstönendes Kläffen. Strüber, jovial, seriös – der richtige Coach für eine gut kickende Freizeitmannschaft.

„Du bist der beste Trainer, den wir uns vorstellen können“, werden sie später über ihn sagen, und Strüber wird gerührt sein, richtig dosiert natürlich, wie es sich gehört, und er wird sich bedanken und ein Bier nehmen und etwas langsamer trinken als seine Jungs. Und Strüber wird sagen, dass er froh ist, dass „der Mike“, den sie auch hier „Knipser“ nennen, Anfang der Saison nach Wulften kam. Dass er gut reinpasst und das alles.

Strüber steht Höhe Mittellinie und streichelt den Bart. Das ewige Trainergesicht: Skepsis bis Spielende. Zwischendrin kommt jemand, schüttelt die Hand, klopft die Trainerschulter, sagt „tag Stephan!“, erkundigt sich, ob der Mike schon getroffen hat und nimmt einen Platz in der Nähe. Da dann stehen. Gucken. 1:0 also, angespannte Ruhe, aber es läuft ja auch gut.

Der Gegner spielt ein unzeitgemäßes Spiel langer Bälle nach vorn. Wulften spielt, wenn sich alle zusammenreißen, kurze Pässe, Drechsel spielt immer noch Sturm. Vom gelegentlichen Gefuchtel der jüngeren Spieler hebt er sich ab. Drechsel tut das Nötigste, um immer sehr gefährlich zu bleiben vor dem Tor der anderen. Ohne große Hinundherverschiebung, beinahe kauernd steht er da, sehr robuste Einsachtundsechzig, kein Mann, der gerne läuft, dafür in der Regel richtig, konkret und genau. Er ist ein Schleicher im Strafraum, es reicht eine vom Gegner nicht für möglich gehaltene Bewegung. Drechsel hat in den vergangenen beiden Saisonspielen sechs Tore gemacht. Er kann ein Spiel sabotieren.

Andreas Petersen, der Vater von Nils Petersen, den der FC Bayern aus Cottbus holte und nach Bremen gab, sagt über Drechsel den unvermeidlichen, aber ehrlich gemeinten Satz: „Er war einer, der es hätte schaffen können.“ Als Trainer des SV Südharz musste er seine Abwehr einst auf die grandiose Abschlussstärke Drechsels einschwören. Seit einer Saison trainiert Petersen den 1. FC Magdeburg, sein Sohn Nils steht vor dem Durchbruch in der Bundesliga. „Er ist einer, der es schaffen kann“, sagt Drechsel.

Wulftener Jungs

In Wulften steht es 5:0. Stephan Strüber steht immer noch am Spielfeldrand, Mike Drechsel noch immer lauernd Höhe Strafraumgrenze. Wieder und wieder wird der Schweiß geschüttelt, Wulften rennt an, Drechsel steht frei und schiebt ein.

Das Unbesondere, die Abgeklärtheit im Umgang mit allen und allem, ist in Wulften Trumpf. Nur im Spiel und im Sprechen über die vergangenen Spiele zeigt sich die Aura der Einmaligkeit, die Zeit an Drechsel, in Drechsel und um ihn herum.

1974, als der 1. FC Magdeburg im Finale des Europapokals der Pokalsieger den AC Mailand mit 2:0 besiegte, waren weniger Magdeburger im Stadion De Kuip in Rotterdam als heute Wulften-Fans in Wulften. Die Magdeburger durften beim alles überragenden Triumph des DDR-Fußballs nicht reisen.

In der Wulftener Mittagshitze pochen die Schläfen, die letzten Schritte der Saison, milde, matt und wohl. Und dann feiern sie den Abpfiff, die Party wird angeworfen, so geht es den Abend, die Nacht, die ganze Nacht lachen und morgen Vormittag weiter mit pelziger Zunge.

Mike Drechsel sitzt auf dem Rasen vor dem Vereinsheim. Er schaut auf seine Torjägerkanone und trinkt ein Radeberger aus der Flasche. Es ist das fünfte seit Spielschluss, das war vor einer halben Stunde, er haut es weg, das sechste Bier. Drechsel wollte kürzertreten. Jetzt ist er aufgestiegen, mit 33, er macht noch mal einen Schritt nach vorn. „Bezirksliga – wir sind wieder da“ steht auf den neu beflockten Meister-T-Shirts. Drechsel war da noch nie.

Der Knipser, das vielleicht letzte große Mittelstürmertalent der späten DDR, in seinem 34. Jahr: hohe Siege, viele Tore. „Eine Spaziergangsaison“, sagt Drechsel und fasst sich ans Knie. In der Sommerpause wird sein Meniskus operiert. „Der Hüftschwung hat nachgelassen“, sagt er, und „das nächste Spiel ist immer eins weniger“, fällt ihm noch ein.

„Mach mal Sonne, aber nicht zu doll“, hatten die Wulftener Jungs gesagt nach dem Regenspiel im Nachbarort Pöhlde am vorletzten Spieltag.

Und die Sonne glüht, dass das kühle Bier warm wird. Drechsel holt noch eins, die Freundin, die Töchter, da kommt der Handkuss von der Tribüne – völlig zu Recht.

© Jasper Fabian Wenzel · Welt am Sonntag, 7. Oktober 2012

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